Fragen eines Sprachlosen

Lorenz
5 min readFeb 8, 2021

Ich bin Sprachlehrer. Ich unterrichte Deutsch als Fremdsprache. Die Relevanz von Fremdsprachen ist mir also durchaus bewusst. Neue Sprachen öffnen dir neue Türen usw. Außerdem lebe ich in Istanbul und arbeite an einer englischsprachigen Institution. Mein Alltag ist also von Gesprächen geprägt, in denen mindestens eine Seite in einer für sie fremden Sprache spricht. Natürlich habe ich aber auch viele Gespräche in Freundeskreis, Kollegium oder Familie, in denen wir uns alle die gleiche Muttersprache teilen. Ich bin also beides gewohnt, Gespräche in meiner Muttersprache und Gespräche in Fremdsprachen. Und ich kenne beides: Gespräche, in denen wir uns so gut verstehen können. Gespräche, die uns vorwärts bringen an neue Orte. Auf der anderen Seite Gespräche, in denen zwei Menschen zwar sprechen, aber nicht miteinander. In der die Worte wie gegen eine unsichtbare Zwischenwand prallen. Aber -und das ist das Aber dieses Textes- ob wir uns verstehen oder nicht, scheint von vielem abzuhängen, aber in den seltensten Fällen von der Sprache, die wir sprechen.

Der Legende vom Turmbau zu Babel nach wollten wir Menschen uns Gott gleichstellen, indem wir den Bau eines riesigen Turms planten, der bis in den Himmel ragen sollte, bis zu Gott eben. Als Gott das bemerkte, konnte er das natürlich nicht unbestraft lassen. Seine Strafe waren verschiedene Sprachen für uns Menschen. Wir konnten uns also plötzlich nicht mehr verständigen und damit auch nicht mehr solchen Unfug planen.

Und trotzdem bin ich der Meinung, dass unsere Verständigung nicht an verschiedenen Sprachen scheitert. Streitsituationen, in denen man verzweifelt feststellt, wie sehr man aneinander vorbeiredet. Unausgesprochene Konflikte in der Familie, die von außen so banal erscheinen und durch ihre Unausgesprochenheit doch so riesig sind. Unterdrückte Gefühle, die so verletzend sein können. Dies sind nur einige Beispiele aus meinem eigenen und mit Sicherheit auch vieler anderer Leben für fehlende Verständigung, völlig unabhängig von der Sprache. Auf der anderen Seite Begegnungen in denen wir mit unseren Worten uns selbst zeigen, in denen wir uns verstehen. Dialoge, die uns voranbringen, neue Horizonte zeigen oder schon vorhandene Horizonte bewusst machen. Dialoge, für die man sich bedanken möchte, da man merkt, man ist nicht allein mit seinen Gedanken oder Gefühlen.

Manchmal sind unsere Worte nur verlorene Laute in einem leeren Raum. Manchmal aber erschaffen sie etwas, formen etwas, legen eine Wirklichkeit frei, die schon immer da war, aber erst durch das Gespräch für uns greifbar wird.

Wenn nicht am Level der Sprache die wir sprechen, woran liegt es dann, ob wir uns verständigen können oder nicht? Wie schaffen wir es, nicht nur schöne Worte zu formulieren, sondern uns selbst auszudrücken (ganz bildlich wie die Zahnpastatube)? Wie schaffen wir es, uns nicht nur zu hören, sondern uns zu verstehen?

Sprache ja nur eine von vielen Ebenen, auf der wir uns verständigen. Eine durchaus wichtige, aber bei weitem nicht die einzige und niemals reicht sie aus. Ein Beispiel, das jeder kennt: “Ich bin nicht bockig” sagt das Kind und sein gereizter Ton, sein verzerrtes Gesicht, seine verschränkte Haltung, alle sagen das genaue Gegenteil. Mimik und Gestik sind ein so entscheidender Teil unser Verständigung, viel aussagekräftiger als alle Worte, die wir uns zusammenreimen können. Was ist ein “Ich liebe dich” im Vergleich zu einem verliebten Blick? Was ist ein “Wir verstehen uns so gut” im Vergleich zu einem Lachanfall, zu dem man sich gegenseitig ansteckt? Emojis sind eine so geniale Erfindung, weil sie Mimik und Gestik in die geschriebene Sprache bringen. Jeder kennt es: Missverständnisse, die auf Chatnachrichten ohne den passenden Emoji beruhen. Emojis sind universell, Mimik und Gestik auch. Es mag kulturelle Unterschiede geben, der gehobene Daumen mag in der einen Sprache eine Zustimmung sein, in der anderen eine grobe Beleidigung, aber die Basics sind uns so natürlich, dass sie überall gleich sind. Lachen, strahlende Augen, aufgeregtes Herumspielen mit den eigenen Händen, Händchen halten, Tränen, Zornesfalten: Wir alle verstehen das, ohne darüber nachdenken zu müssen. Wir alle haben eine natürliche Gestik und Mimik, mit der wir uns so gut ausdrücken und verständigen können. Als Kinder lachen, schreien und weinen wir oder strahlen bis über beide Ohren, wenn wir uns freuen. Mit der Zeit “lernen” wir, uns seriöser zu verhalten, weniger von uns zu zeigen, uns zu “benehmen”. Wir lernen weniger zu weinen und unsere Gefühle nicht direkt zu zeigen. Wir lernen, wie die grauen Herren aus Momo zu werden. Wie sollen wir uns verstehen, wenn wir uns unsere ureigenste Körpersprache selbst zensieren?

Zweitens, und das ist meiner Meinung nach eine noch viel häufigere und entscheidendere Ursache für Missverständnisse und für fehlende Verständigung: Wir sind extrem schlecht darin, das zur Sprache zu bringen, was wir denken und fühlen. Scham, Angst, Anpassung, gesellschaftliche Normen, sie alle halten uns sehr oft davon ab, unser Inneres auszudrücken. “Wenn du geschwiegen hättest, wärst du ein Philosoph geblieben” ist ein schönes Sprichwort, das oft zutrifft. Aber entstehen nicht viel mehr Probleme dadurch, dass nichts gesagt wird? Gilt nicht viel öfter “Wenn du etwas gesagt hättest, hättest du etwas zum Positiven ändern können.”? Aus Angst vor der Reaktion nicht gefragte Fragen, aus Scham nicht ausgesprochene Entschuldigungen, aus blindem Gehorsam nicht ausgesprochene Kritik. Leider kann ich in meinem Leben Beispiele für all diese Sprachlosigkeiten finden. Wir ziehen es vor, schweigsamer Philosoph zu bleiben, da jedes Wort ein Risiko ist. Ein Risiko falsch verstanden zu werden, Grenzen zu überschreiten, zu verletzen oder verletzt zu werden. Aber ist nicht jedes echte Wort ein schönes Wort? Sollten wir uns nicht alle gegenseitig mehr fragen? Wie geht’s? Worauf bist du stolz? Worüber bist du traurig? Sollten wir uns nicht alle mehr kritisieren? Nichts bringt uns weiter als konstruktive Kritik. Das hättest du doch so machen können, oder? Probier’s doch mal so! Sollten wir uns nicht alle mehr entschuldigen. Entschuldige bitte, dass ich dich verletzt habe. Entschuldige bitte meine unausgesprochenen Worte. Entschuldige bitte meine Unsicherheit.

Wie wäre es, wenn wir statt der vierten und fünften Fremdsprache unsere ureigene Sprache richtig lernen? Wenn wir lernen, wie wir ausdrücken können, was wir denken und fühlen? Wenn wir lernen, zuzuhören und zu verstehen? Wenn wir wieder lernen zu lachen und zu weinen?

Dann können wir zwar vielleicht keinen babylonischen Turm bauen (Großbauprojekte sind sowieso out!), aber gut tun würde es uns mit Sicherheit. Mein Vorsatz für die Gegenwart und Zukunft: Kein Französisch, kein Japanisch, sondern weniger verschweigen und mehr aussprechen, meine eigene Sprache wiederfinden.

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